„Ein Virus im Dorf“ – Ulli Troy berichtet … (Bericht #12)

„Ein Virus hat unser aller Leben verändert. Die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Ausbreitung getroffen wurden, bestimmen nun unseren Alltag. Jede Person macht ihre eigenen Erfahrungen – Erfahrungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

 

In Zusammenarbeit mit Georg Sutterlüty haben wir ein Projekt gestartet. Wir wollen wissen, wie Eggerinnen und Egger (sowie einzelne BregenzerwälderInnen umliegender Gemeinden) mit der Krise umgehen: Was hat sich in ihrem Leben verändert, welche Herausforderungen gibt es und was erhoffen sie sich nach Beendigung dieser schwierigen Phase? Wir haben ganz kunterbunt nach Personen gesucht, die bereit sind, ihre persönliche Geschichte zu schildern. Wir beginnen mit dem ersten Bericht und wollen jeden zweiten Tag den nächsten veröffentlichen.

 

Bereits veröffentliche Berichte werden von uns ins Archiv verschoben, sind aber weiterhin hier für euch verlinkt:

 

Bericht 11: Norbert Mayer (62), VS-Lehrer und Literat, Großdorf

Bericht 10: Carmen Willi, Leiterin VS Egg, Hof

Bericht 9: Hugo Waldner (72), Bauer und Alt-Vizebürgermeister, Freien

Bericht 8: Magdalena Vögel (36), Personalentwicklerin und Mama, Schwarzenberg

Bericht 7: Samuel Schwärzler (27), und Vize-Obmann des FC Egg, Rain

Bericht 6: Friedl Kaufmann, Pfarrer von Egg und Großdorf

Bericht 5: Jürgen Zengerle (29), Krankenpfleger in KH Dornbirn, Hof

Bericht 4: Lisa Schmidinger (28 Jahre), Krankenpflegerin, Wohnort Schmarütte

Bericht 3: Wilhelm Sutterlüty (63), Geschäftsführer Sozialzentrum Egg, Schmarütte

Bericht 2: Marcel Simma , Schüler der HTL Dornbirn, Stadel

Bericht 1: Brigitte Bereuter (40), Gemeindeangestellte, Mutter und Hausfrau, Rain

 

Kommentare sind erwünscht, doch bitten wir aus Rücksicht auf die Autoren, den vollen Namen sowie den Weiler, in dem ihr wohnt, anzugeben.“

 

Bericht 12: I dar nüd jömmoro – Ulli Troy

 

„I dar nüd jömmoro“, pflegt eine mir gut Bekannte (M.F.;93) zu sagen, wenn man sie nach ihrem Befinden fragt. Das gilt auch für mich, wenn ich mein „HIER & Heute“ mit dem „DORT & DAMALS“ vergleiche. Manchmal ist es sehr hilfreich, Vergleiche zu ziehen, um etwas einordnen zu können.

 

Musik und Auftritte? Ja, die ZÜNDSCHNUR Termine im Frühjahr wurden alle abgesagt und auf Herbst verschoben. HANSKASPAS ENKEL (=Nachfolgeband der Kleaborar Bahnteifl) haben Proben und Vorbereitungen für die ersten Auftritte auf Eis gelegt. ABER, das ist im Grunde genommen kein wirkliches Problem, weil wir alle nicht von der Musik und Auftritten leben müssen. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!

 

Für mich als Pensionist hat sich eigentlich nicht sehr viel verändert. Es gibt Möglichkeiten der Bewegung (Spazieren/Radfahren) in der Natur, ohne auf Menschenansammlungen zu stoßen. Im Bregenzerwald – auf dem Land – sind wir doch privilegiert gegenüber Menschen in Städten oder in großen Wohnsiedlungen. Einzig, dass ich jetzt mit 67 zur Risikogruppe gehöre(n soll), gibt mir zu denken. Dies würde ich lieber verdrängen …

 

HIER ist für mich aber nicht nur das direkte Umfeld, sondern Österreich und besonders Vorarlberg. Ganz ehrlich, wo sonst in der Welt (evtl. noch Deutschland oder Schweiz) möchte man jetzt lieber sein? Bei allen Schwierigkeiten und Problemen, die auftreten (können), wo ist die gesundheitliche Versorgung so gut und das soziale Netz so dicht wie bei uns? Ich fühle mich wohl und sicher im HIER und HEUTE. Dazu gehören für mich ganz wesentlich auch die verantwortlichen Politiker. Ich komme nicht umhin zu sagen, dass ich – so wie offensichtlich der Großteil der Bevölkerung – der Meinung bin, dass sie einen sehr guten Job machen. Man darf auch einmal loben! Die Landesregierung (großes Kompliment den LH u.v.a. an Martina!!) und die JETZige Regierung in Wien mit dem BP. „Dank“ Ibiza ist uns da wohl einiges erspart geblieben!!

 

Über das DORT muss man nicht viel und große Worte verlieren. Die Nachrichten zeigen uns schreckliche Bilder aus Italien, Frankreich, Spanien usw. Am meisten berühren mich – als ehemaligen Anglisten – die Bilder und Berichte aus England und den USA. Dies vor allem, weil die derzeitige katastrophale Lage mitverursacht wurde von zwei verantwortungslosen Populisten und Politclowns, welche die Gefahren kleingeredet und viel zu lange ignoriert haben. Noch vor Weihnachten hatte ich einen unvergesslichen Kurzurlaub in New York, und wenn ich jetzt sehe, dass im Central Park – wo wir uns öfters aufgehalten haben – Feldlazarette stehen, dann fehlen mir schlichtweg die Worte.

 

Und DAMALS? Wir vergessen nur zu schnell, dass es früher öfters Epidemien und Pandemien gegeben hat, auch bei uns. Vielleicht ist jetzt der passende Moment uns daran zu erinnern, was das damals wohl bedeutet hat. Ich bin in letzter Zeit öfters am „Elias Brügel“ und dann stelle ich mir vor, wie die Bevölkerung im Jahre 1635 mit der hochansteckenden Krankheit, der Pest, umgegangen ist. Quarantäne und Abschottung mit der letzten Konsequenz – Rückzug an den Sterbeort zusammen mit ihrem Pfarrer Elias Brügel. Dort oben, gleich nebenan in der Parzelle Brand, hat Pfarrer Ulrich Haag die Massengräber geortet. 250 Tote – 250 Eggerinnen und Egger, alle Opfer einer tödlichen Pandemie – ausgestoßen, abgesondert, sogar die Todesstätte.

 

Ein kurzer Spaziergang auf den Rain, zum „Gottsbild“. Dort sollen sich angeblich die Bewohner dieses Ortsteiles am Sonntag versammelt haben, um den Segen des Pfarrers aus der Ferne entgegenzunehmen. Social-Distancing im 17. Jahrhundert!

 

Noch viel näher, sowohl zeitlich als auch ganz persönlich, der Tod meines Urgroßvaters Johann Baptist Troy (1840-1885). Johann Baptist, ein Mann von imposanter Statur, Säger und Zimmermeister – u.a. auch Gründungsmitglied des Egger Männerchores im Jahre 1868 – starb an Pocken (Schwarze Blattern), einer der gefährlichsten Infektionskrankheiten. In der Familienchronik von Ulrich sen. heißt es: „Er starb am 11. Februar 1885 (mit 45 Jahren!). Er hatte eine gefährliche, ansteckende Krankheit, niemand durfte mit ihm in Berührung kommen, um eine Ansteckung zu vermeiden. Die Beerdigung musste um Mitternacht bei Laternenschein vorgenommen werden, den Sargträgern überreichte man ausgiebig Schnaps zum Schutze vor Ansteckung. Eine alte Frau, die Gattin des Franz Josef Fetz zur Mühle, konnte sich erinnern, dass viele Bewohner des Weilers Mühle dem grausigen Ereignis zusahen. Der Verstorbene, ein Mann mit 2 m Größe, hinterließ seine hochschwangere Frau Agatha (38; geb Pfanner aus Andelsbuch) und fünf unmündige Kinder (zw. 6 und 11)“. Einen Monat später erlitt sie eine Totgeburt.

 

1635 – Elias Brügel und 250 Tote
1885 – Johann Baptist Troy, mein Urgroßvater und Ahnherr der Pfister-Troyo

 

Zwei Ereignisse – weit weg und in Zeiten der Coronakrise irgendwie doch nah, erahnbar wie es bei uns einmal war und wie es auch sein könnte …
Aber Gott sei Dank, ich lebe im HIER & JETZT, und ich komme zurück zum Anfang
„I dar nüd jömmoro“ – Mein Glas ist nicht halb leer, im Gegenteil, es ist halbvoll … und „sagär dütle drübor“

 

Ulli Troy (67); AHS-Lehrer in Pension und Musiker, Rain

Deine Meinung

  1. Hello nach Down Under! Schön von dir zu hören, "alter" Nachbar!!! Hälst also auch über egg-news Kontakt zu Egg! Freut mich natürlich auch, dass es dir/euch gut "mindestens so gut geht wie uns".!
    Bei der Gelegenheit auch schöne Grüße in die Niederlande.
    Ja, man trifft und begegnet sich auf egg-news!
    Wunderbar
    und gsund bliebo!!!
    LG Ulli
  2. Danke, Ulli, fuer Deine bewegte Schilderung ueber ein Stueck Egger Geschichte...Zwar gibt es bei unseren Politikern hier normalerweise viel auszusetzen, aber was diesen Corona Virus betrifft, so haben sie gute Arbeit geleistet und ich fuehle mich sicher nirgendwo wohler als hier im hohen Norden Australiens. Es freut mich aber, dass es Euch im Bregenzerwald mindestens so gut geht wie uns hier. Weiterhin alles Gute!
  3. Dine Gschicht gfallt meor. Wundarschöa und interessant gschreoba
  4. Danke, ein echt toller Bericht. Bin am Elias Brügel und die Pestkreuze in Mellau zig mal vorbei gewandert(Ich war von 1974-2016 immer im Urlaub im Löwen in Andelsbuch. Wegen schwere Krankheit in der Familie kann ich zurzeit nicht verreisen). Ich wünsche alle leser/-innen und meine Freunde und Bekannte in Andelsbuch/Egg/Grossdorf/Bersbuch und Bezau viel Gesundheit. Den Alle sind: wit foat und gli sa noh !(aus dem Lied a Stund, a Tag, a Johr)
    Bleibt Alle Gesund !
  5. walter am 22.04 2020
    Super Ulli toller Kommentar!
    Sehr gut geschrieben!
    Tut saugut jetzt gerade und gibt Mut!