„Ein Virus im Dorf“ – Jürgen Zengerle berichtet … (Bericht #5)

„Ein Virus hat unser aller Leben verändert. Die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Ausbreitung getroffen wurden, bestimmen nun unseren Alltag. Jede Person macht ihre eigenen Erfahrungen – Erfahrungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

 

In Zusammenarbeit mit Georg Sutterlüty haben wir ein Projekt gestartet. Wir wollen wissen, wie Eggerinnen und Egger (sowie einzelne BregenzerwälderInnen umliegender Gemeinden) mit der Krise umgehen: Was hat sich in ihrem Leben verändert, welche Herausforderungen gibt es und was erhoffen sie sich nach Beendigung dieser schwierigen Phase? Wir haben ganz kunterbunt nach Personen gesucht, die bereit sind, ihre persönliche Geschichte zu schildern. Wir beginnen mit dem ersten Bericht und wollen jeden zweiten Tag den nächsten veröffentlichen.

 

Bereits veröffentliche Berichte werden von uns ins Archiv verschoben, sind aber weiterhin hier für euch verlinkt:

 

Bericht 4: Lisa Schmidinger (28 Jahre), Krankenpflegerin, Wohnort Schmarütte

Bericht 3: Wilhelm Sutterlüty (63), Geschäftsführer Sozialzentrum Egg, Schmarütte

Bericht 2: Marcel Simma , Schüler der HTL Dornbirn, Stadel

Bericht 1: Brigitte Bereuter (40), Gemeindeangestellte, Mutter und Hausfrau, Rain

 

Kommentare sind erwünscht, doch bitten wir aus Rücksicht auf die Autoren, den vollen Namen sowie den Weiler, in dem ihr wohnt, anzugeben.“

 

Bericht 5: Jürgen Zengerle – Von Helden, Krankenpflege und Netflix-Schauen
Als diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger erlebe ich die momentane Situation ziemlich speziell. Gelegentlich habe ich das Gefühl, als wäre ich gespalten in zwei Persönlichkeiten, die ziemlich abrupt zum Vorschein kommen können.

 

Auf der einen Seite betreffen mich die Maßnahmen der Regierung wie Millionen andere Menschen in Österreich hautnah, auf der anderen erlebe ich tagtäglich im Krankenhaus, vor welchen Herausforderungen und Extremen unser Gesundheitssystem momentan gestellt ist – seien es die akuten Verschärfungen der allgemeinen Situation oder sei es das komplette Neuland, in dem wir uns alle befinden und versuchen, einen vernünftigen Weg durch das Unbekannte einzuschlagen.

 

Momenten erlebt meine Berufsgruppe in der öffentlichen Berichterstattung eine Phase des Hochlebens und Applaudierens. Ehrlich gesagt empfinde ich das als etwas unangenehm. Der Grund dafür: In meiner Station wurde unser Pflegeteam in drei Gruppen geteilt. Diese separaten Teams decken für drei Tage am Stück die Tag- und Nachtdienste ab, um dann abgelöst zu werden. Der Sinn dahinter ist, dass es zu wenig Kontakt zwischen den einzelnen Teammitgliedern kommt und auf diese Weise menschliche Ressourcen bestmöglich eingespart werden. Die Situation kann sich abrupt ändern und ein Team aufgrund einer Covid-19 Infektion ausfallen, was dann kompensiert werden muss. Derzeit arbeite ich nur drei Tage und habe anschießend sechs Tage frei. Ich leiste also bei weitem nicht so viel wie andere „systemrelevante Personen“: Mitarbeiter in Supermärkten und bei der Post, Polizisten, Rettungssanitäter, Hausärzte u. a. Was aber Pflegerinnen und Pfleger sowie Ärzte und Ärztinnen in Italien und Spanien aufsichnehmen, ist schlicht unglaublich und unmenschlich. Diese sind die wahren Heldinnen und Helden, die die Welt gerade braucht. Und es scheint möglich, dass wir in Österreich genau solche noch brauchen werden.

 

Auch bei uns spitzt sich die Situation allmählich zu, und ich bin mir sicher, dass sich meine Dienstpläne in den kommenden Wochen noch dichter werden. Manche meiner Kolleginnen und Kollegen in anderen Krankenhäusern erleben diese Verschärfung bereits seit einigen Tagen, besonders jene im LKH Hohenems. Auch wenn es momentan ruhig wirkt, kann sich dies doch rasch ändern.

 

Privat trifft mich die Eindämmung der sozialen Kontakte viel härter, als ich es ursprünglich gedacht habe. Soziale Kontakte beschränke ich momentan fast ausschließlich auf digitale Inhalte, online via Whatsapp oder Videochats. Da alle Musikproben und Konzerte abgesagt werden mussten, habe ich momentan unglaublich viele Abende zur freien Verfügung. Aber was mache ich damit? Natürlich könnte ich mich musikalisch betätigen und üben, üben, üben. Ich könnte mich an Bücher wagen, die ich mir schon lange vorgenommen habe („Weltliteratur, die jeder einmal gelesen haben sollte“). Ich könnte mich sportlich betätigen, quasi die jährlichen Neujahrsvorsätze tatsächlich in die Tat umsetzen. Aber die Realität schaut anders aus: Netflix und Youtube beanspruchen sehr viel meiner Zeit. Ich weiß, ich könnte sie besser nutzen, weshalb ich mich jedes Mal freue, wenn ich meinen Dienst im Krankenhaus wieder antreten darf.

 

Es liegt in meiner Natur, solchen Situationen auch bestmöglich die positiven Dinge abzugewinnen. Die „Entschleunigung des Alltags“ tut uns sicher allen gut. Das Bewusstsein für Freiheit, Freundschaft und Flexibilität – so selbstverständliche Werte – kann ganz neu entwickelt und wahrgenommen werden. Und natürlich kann man zu Hause endlich (Aufräum-)Projekte angehen, die man seit Jahren vor sich hergeschoben hat.

 

Ich wünsche, dass ich in 40 Jahren meinen Kindern oder Enkeln als Zeitzeuge über eine Ausnahmesituation berichten kann, die sich hoffentlich nicht nochmals in ähnlich dramatischer Form ereignet. Und im Optimalfall können wir in einigen Monaten nach dem Überstehen der Situation zurückblicken und uns freuen, dass sich Dinge wie „zämmo hebo“, „ufanand luago“ und „anand hea“ langfristig eines höheren Stellenwerts erfreuen dürfen.

 

Jürgen Zengerle (29), Krankenpfleger in KH Dornbirn, Hof

Deine Meinung

  1. Ich kann natürlich nur von dem schreiben, was ich persönlich mitbekomme... Darum ist folgende Antwort mit Vorsicht zu genießen: Ich finde, es ist momentan relativ ruhig und das ist soweit eine Bestätigung für die Vorgehensweise der letzten Wochen. Man dürfte das Ganze sehr gut abgefangen haben und es scheint zumindest als hätte man die Situation gut im Griff!
    Die Gefahr ist nun, dass man zu fahrlässig wird und sich nicht mehr an die Empfehlungen/Regeln hält - und dann wäre eventuell alles "für d'Katz gsin". Also unbedingt durchhalten :)

    Jürgen