Der bedrohte „Dorfmittelpunkt“

Diesen Artikel aus der monatlich erscheinenden Zeitschrift „Thema Vorarlberg“ – geschrieben von Mag. Herbert Motter – können wir mit freundlichen Genehmigung der Wirtschaftskammer Vorarlberg veröffentlichen:

 

In den vergangenen 70 Jahren hat sich die Zahl traditioneller Vorarlberger Gasthäuser und Gasthöfe um rund 500 reduziert. Eine Entwicklung, die sich in jüngster Zeit weiter verschärft hat. Vorarlbergs Gastronomie unterliegt einem gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungsdruck. Die Sparte Tourismus sucht nach einem Ausweg.

 

Gasthäuser als Ort der Geselligkeit und als Plattform zum Austausch der regionalen Bevölkerung waren seit jeher Mittelpunkt der örtlichen Dorfgemeinschaft. Traditionell wurden Wirtshäuser als zentraler weltlicher Versammlungsort genutzt, als Orte des Zeitvertreibs, der politischen Meinungsbildung sowie als Umschlagplatz für Informationen und wichtige Neuigkeiten. Und es wurde naturgemäß gegessen, getrunken und gefeiert. Früher übernahm das Wirtshaus in Gemeinden ohne Rathaus dessen Funktion. Amtliche Veranstaltungen wie die Gemeinderatssitzung oder auch Bürgerversammlungen wurden in Wirtshäusern abgehalten. Sie waren vielerorts Knotenpunkte im dörflichen Geschehen und werden gern auch als weltliches Pendant zur Kirche gesehen. Doch der Wandel in sozioökonomischer, demographischer und technischer Hinsicht setzt der Institution „Gasthaus“ massiv zu.

 

„Strukturwandel der Gastronomie in Vorarlberg“

Der Rankweiler Raumplaner Johannes Herburger hat den „Strukturwandel der Gastronomie in Vorarlberg“ im Auftrag der Sparte Tourismus untersucht. Laut Herburger hat die Anzahl der Gasthäuser in den 1950er-Jahren einen historischen Höchststand erreicht. Gründe dafür sieht er im beinahe flächendeckend etablierten Tourismus im ländlichen Raum Vorarlbergs und den damals größtenteils noch vorhandenen landwirtschaftlichen, kleinbäuerlichen Strukturen mit einer traditionell agrarischen Gesellschaft. Das Gasthaus war nicht nur Abnehmer oder selbst Produzent landwirtschaftlicher Produkte (zum Beispiel Wein, Fleisch, Gemüse, Brot), sondern galt auch als der Treff- und Kommunikationspunkt der Landwirte und Händler. Insbesondere der Vieh- und Rohstoffhandel (etwa Holz) hatten regional gesehen einen hohen Stellenwert.

 

„Die zunehmende Mobilitäts- und Wohlstandssteigerung sowie neue Trends in Ästhetik und Ernährung führten in den darauffolgenden knapp 70 Jahren zu einer völligen Angebotsveränderung in der Gastronomie“, sagt Herburger. Die hohe Mobilität hatte eine funktionale Trennung von Wohnort, Arbeitsort und Ort der Freizeit sowie Erholung zur Folge. Viele ländliche Gemeinden mutierten zu reinen Schlafgemeinden. „Und wie sich gezeigt hat, sind wirtschaftliche Prosperität und hohe Einpendlerzahlen nicht mit einer funktionierenden Gastronomie gleichzusetzen“, betont Herburger. Das Gasthaus habe seine Funktion als „Dorfmittelpunkt“ verloren. Schon länger in der Gastronomie spürbar ist der Trend zur Konzentration in den Ballungszentren. Gastronomen haben zudem mit Landflucht, hohen Investitionsherausforderungen und behördlichen Auflagen (Hygienerichtlinien,
Allergenverordnung, Datenschutzgrundverordnung, Nichtraucherschutz, Barrierefreiheit oder Kassen- und Belegerteilungspflicht) zu kämpfen. Gerade das Gastgewerbe ist eine in dieser Hinsicht besonders leidgeprüfte Branche. Auch die Nachfolgeproblematik spitzt sich immer weiter zu. Viele Betriebe existieren laut dem Gastronomieexperten Martin Mayerhofer nur noch aufgrund des starken Zusammenhalts innerhalb der Familien. Ein ständiger Kampf, der die Suche nach externen Mitarbeitern äußerst schwierig macht. „Hinzu kommt die stark wachsende Nischengastronomie im urbanen Raum“, bestätigt Mayerhofer.

 

Wandel der Gastronomie
In ländlichen Gegenden haben Einkaufszentren, Tankstellen und kleine Bäckereien ihr Angebot erweitert und punkten mit längeren Öffnungszeiten und einem breiteren Sortiment. „Nicht nur die Gasthöfe, sondern auch andere Betriebe beziehungsweise Einrichtungen wie Greißler, Postfilialen oder Polizeistationen verschwinden zunehmend aus kleineren Orten“, erklärt Helmut Eberhart, Professor am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Uni Graz. Dazu habe sich die Gastronomie in den letzten Jahren generell stark gewandelt. Satt zu werden allein reicht heute nicht mehr aus. „Essen gehen“ ist mittlerweile zu einem sozialen Event geworden, bei dem nicht nur die Qualität der Speisen, sondern auch die Lage, die Serviceleistung und das Ambiente der Location überzeugen müssen. Gerade junge Bevölkerungsschichten decken ihre Wünsche nach Unterhaltung und Austausch sowie ihr Bedürfnis nach sozialer Bindung heutzutage meist an anderen Orten als im Wirtshaus, etwa in Diskotheken, auf Festen, selbst organisierten Feiern oder in Bars. Nicht zuletzt wird laut Experten der Trend hin zu internationalen Restaurants, Lokalen mit speziellen Konzepten oder aber auch Hauben-Gasthöfen mit extravaganten Menüs weiterhin anhalten. Die Gesellschaft ist bunter, eben pluralistischer geworden.

 

Konkurrenz durch Vereine
Um die Jahrhundertwende setzte ein Vereins-Boom ein, der nicht zuletzt auch dazu beitrug, dass viele Gasthäuser expandierten. Es entstanden eigens eingerichtete Clubzimmer oder Säle für Vereinsfeierlichkeiten. „Gaststätten wurden zu einer der wichtigsten Voraussetzungen für das aufblühende Vereinswesen, das wiederum von den Wirten stark gefördert wurde“, erklärt Johannes Herburger. Heute haben sich die Vereine davon weitgehend entkoppelt. Durch das Führen eigener Vereinslokale kommt den Betrieben wichtige (Stamm-)Kundschaft abhanden.

 

Einer Schätzung der Johannes-Kepler-Universität Linz zufolge lagen die Umsätze aus Vereinsfesten und Vereinslokalen im Jahr 2014 österreichweit zwischen 300 Millionen und 900 Millionen Euro. Wichtige Umsätze, die sowohl den Betrieben als auch der Volkswirtschaft fehlen, da die Vereine nicht denselben steuerlichen Verpflichtungen unterliegen.

 

Programm zum Erhalt
In Tirol will man nun mit einem landesweiten Förderprogramm gegensteuern. Weiter westlich trachte man danach, diesem Beispiel zu folgen. „Zur Sicherung der traditionellen Wirtshauskultur unseres Landes soll in einem ersten Schritt die Situation in den verschiedenen Regionen des Landes evaluiert werden. Darauf aufbauend, müssen dann Maßnahmen zur Sicherung der Wirtshauskultur im Einvernehmen zwischen Land, Gemeinden und der Wirtschaftskammer Vorarlberg entwickelt werden“, sagt Harald Furtner, Geschäftsführer der Sparte Tourismus. Denn eines sei klar, das Thema könne nur im Zusammenspiel aller angegangen werden. Die Signale vonseiten des Landes zur Unterstützung sind jedenfalls gerade in Wahlzeiten nicht zu überhören.

 

Quelle: Thema Vorarlberg, Ausgabe 52, Oktober 2019

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